Was Offenbarung 22:18–19 wirklich bedeutet

„Ich bezeuge jedem, der die prophetischen Worte dieses Buches hört: Wer etwas hinzufügt, dem wird Gott die Plagen zufügen, von denen in diesem Buch geschrieben steht. Und wer etwas wegnimmt von den prophetischen Worten dieses Buches, dem wird Gott seinen Anteil am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt wegnehmen, von denen in diesem Buch geschrieben steht.“ Offenbarung 22:18–19

Viele Christen fragen sich: Ist mit der Bibel alles gesagt?

Für viele bibeltreue Christen ist die Bibel das abgeschlossene, vollkommene Wort Gottes. Manche beziehen sich dabei auf die letzten Verse der Offenbarung, in denen es heißt, man solle nichts hinzufügen oder wegnehmen. Wird hier also gesagt, dass die Bibel vollständig ist – und keine weiteren Schriften oder Offenbarungen mehr kommen dürfen?

Diese Auslegung ist weit verbreitet, aber sie beruht auf einem Missverständnis. Die Verse in Offenbarung 22:18–19 beziehen sich nicht auf die ganze Bibel, sondern auf das Buch Offenbarung selbst – und das ist historisch und textlich gut belegbar.

Was meint Offenbarung 22:18–19 wirklich?

Die Aussage ist ernst: Wer etwas hinzufügt oder wegnimmt, zieht sich schwere Konsequenzen zu. Doch diese Warnung steht am Ende eines einzelnen Buches – der Offenbarung des Johannes – und nicht am Ende eines „fertigen“ Neuen Testaments oder einer kompletten Bibel, wie wir sie heute kennen.

Zur Zeit, als die Offenbarung geschrieben wurde (vermutlich zwischen 60 und 95 n. Chr.), war die Bibel noch lange nicht vollständig. Viele Schriften des Neuen Testaments, wie etwa die Johannesbriefe, wurden erst danach verfasst. Hätte Offenbarung 22:18–19 das Ende des gesamten Kanons markiert, wären diese Bücher gar nicht mehr aufgenommen worden.

Wie entstand die Bibel?

Die heutige Bibel – mit dem Alten und Neuen Testament in fester Reihenfolge – ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses. In den ersten Jahrhunderten nach Christus existierten die Schriften nur als einzelne Rollen oder Handschriften, die in Gemeinden weitergegeben wurden. Die Vorstellung, die Offenbarung bilde den „Schlussstein“ der Bibel, ist also eine spätere Entwicklung, die aus der heutigen Buchform resultiert – nicht aus der damaligen Realität.

Erst im 3. Jahrhundert wurde der sogenannte Kodex (Vorläufer des Buches) gebräuchlich, der mehrere Schriften zusammenbinden konnte. Vorher war es schlicht unmöglich, einen „Kanonschluss“ in der Form zu denken, wie wir ihn heute kennen.

Verschiedene Bibelordnungen und zusätzliche Schriften

Die Reihenfolge der biblischen Bücher war in der Kirche zu dieser Zeit nicht einheitlich. Der Codex Claromontanus (5./6. Jh.) etwa enthält neben allen neutestamentlichen Büchern auch weitere Schriften wie:

  • den Barnabasbrief

  • den Hirten des Hermas

  • die Petrusapokalypse

  • die Apostelakten

Auch andere Handschriften wie der Codex Sinaiticus und der Codex Alexandrinus fügen zusätzliche Schriften hinzu – teils nach der Offenbarung. Hätte Offenbarung 22:18–19 ein echtes „Ende“ der Heiligen Schrift markiert, wäre diese Anordnung unlogisch.

Die Warnung in Offenbarung ist nicht einzigartig

Solche Formulierungen – also Fluch- und Schutzverse gegen das Verändern heiliger Texte – finden sich mehrfach in der Bibel und in vielen religiösen oder rechtlichen Dokumenten der Antike.

Zum Beispiel sagt Mose in Deuteronomium 4:2:

„Ihr sollt dem Wortlaut dessen, worauf ich euch verpflichte, nichts hinzufügen und nichts davon wegnehmen…“

Ähnlich klingt eine Passage im Brief des Aristeas („Letter of Aristeas“ §§ 310–311), einem frühen jüdischen Werk über die Übersetzung der Septuaginta. Dort wird ein Fluch ausgesprochen gegen alle, die „etwas hinzufügen, weglassen oder verändern.“

Der Sinn dieser Warnungen war klar: In einer Zeit, in der Texte von Hand kopiert wurden, musste man die ursprüngliche Form schützen – vor menschlichem Irrtum oder absichtlicher Veränderung. Aber niemand verstand sie als generelles Verbot weiterer Offenbarung.

Ist die Bibel abgeschlossen? Eine Frage mit vielen Antworten

Die 27 Bücher des Neuen Testaments wurden erst im Jahr 367 n. Chr. von Athanasius von Alexandrien als verbindlicher Kanon bezeichnet. Aber selbst danach gab es Unterschiede im biblischen Umfang:

  • Die katholische und orthodoxe Kirche erkennen zahlreiche Apokryphen als kanonisch an.

  • Die äthiopisch-orthodoxe Kirche nimmt zusätzlich das Buch Henoch in ihren Kanon auf.

  • Martin Luther stellte die Kanonizität von Jakobus, Hebräer, Judas und der Offenbarung selbst infrage. Er behielt sie zwar in seiner Bibel, stellte sie aber an den Rand.

Diese Unterschiede zeigen deutlich: Die Vorstellung eines „einheitlichen, geschlossenen Kanons“ ist eine spätere Konstruktion, nicht die ursprüngliche Praxis der Christenheit.

Spricht Gott heute noch zu uns?

Die Bibel selbst zeigt, dass Gott immer wieder durch Propheten spricht. Jeder Prophet – von Mose bis Paulus – hat neue Offenbarung gebracht, die das bereits offenbarte Wort ergänzte, nicht ersetzte. Es war ein lebendiger Prozess der göttlichen Kommunikation mit den Menschen.

Elder Jeffrey R. Holland sagte dazu:

„Tatsache ist, dass nahezu jeder Prophet des Alten und Neuen Testaments heilige Schriften denen hinzugefügt hat, die seine Vorgänger empfangen hatten.“

Der Theologe [*]N. T. Wright weist darauf hin, dass die Bibel nicht sich selbst als letzte Autorität präsentiert, sondern auf Jesus Christus verweist, der sagt:

„Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf der Erde.“ (Matthäus 28:18).

Wenn Gott früher gesprochen hat – warum sollte er heute damit aufhören?

Gibt es heute noch heilige Schriften?

Als Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage glauben wir, dass Gott weiterhin durch lebendige Propheten spricht. Diese Offenbarung widerspricht nicht der Bibel, sondern steht in ihrer Tradition.

Zusätzlich zur Bibel erkennen wir weitere Schriften an:

  • das Buch Mormon, ein weiterer Zeuge für Jesus Christus
  • die Lehre und Bündnisse, mit Offenbarungen für unsere Zeit
  • die Köstliche Perle, mit wertvollen Texten früherer Offenbarungen
  • Weitere Worte der Propheten und Apostel

Diese Schriften laden uns ein, Christus nachzufolgen, unsere Beziehung zu Gott zu vertiefen und seinen Willen für unsere Zeit zu erkennen.

Eine Einladung zur persönlichen Prüfung

Vielleicht ist diese Vorstellung neu für dich. Vielleicht wurde dir gesagt, die Bibel sei abgeschlossen. Doch wir laden dich ein, selbst darüber nachzudenken – nicht nur mit dem Verstand, sondern im Gebet.

Denn Gott hat verheißen:

„Fehlt es aber einem von euch an Weisheit, dann soll er sie von Gott erbitten; Gott wird sie ihm geben, denn er gibt allen gern und macht niemandem einen Vorwurf.“ (Jakobus 1:5).

Der Himmel ist offen. Gott ist derselbe – gestern, heute und in Ewigkeit. Und er spricht weiterhin zu seinen Kindern.


[*] Quelle: Scripture Central: N. T. Wright, The Last Word: Beyond the Bible Wars to a New Understanding of the Authority of Scripture (San Francisco, CA: Harper Collins, 2005), 24.

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