von Präsident James E. Faust, 2. Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, aus dem Liahona der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Feb. 2006).
Geläutert durch Bedrängnis
Ich spreche zu allen, doch ganz besonders richtet sich meine Botschaft an die Menschen, die meinen, ihnen falle ein schier unerträgliches Maß an Bedrängnis, an Leiden, an Stacheln und Dornen zu, und die im Meer der Bitterkeit zu ertrinken drohen. Meine Botschaft soll Ihnen Hoffnung, Kraft und Befreiung bringen.
Vor einigen Jahren sprach Präsident David O. McKay (1873–1970) über das Schicksal einiger Pioniere, die der Handkarrengruppe Martin angehört hatten. Viele dieser Neubekehrten waren aus Europa nach Amerika gekommen. Sie waren arm und konnten sich daher kein Ochsen- oder Pferdegespann samt Wagen leisten. Durch ihre Armut waren sie gezwungen, einen Handkarren mit ihrer gesamten Habe zu ziehen und so in den Westen zu gelangen. Präsident McKay berichtete von einer Begebenheit, die sich mehrere Jahre nach diesem heldenhaften Exodus zugetragen hatte:
„Ein Lehrer sagte vor einer Klasse, es sei nicht vernünftig gewesen, sich unter solchen Umständen auf den Weg über die Prärie machen zu wollen, geschweige denn, es [der Handkarrengruppe Martin] auch noch zu gestatten.“
Präsident McKay zitierte sodann jemanden, der in dieser Unterrichtsstunde anwesend war: „Die Kirche und ihre Führer wurden heftig kritisiert, weil sie es einer Gruppe von Neubekehrten gestattet hatten, mit nicht mehr als dem bisschen an Ausrüstung und Schutz über die Prärie zu ziehen, was man auf einen Handkarren laden konnte.
Ein alter Mann saß still in der Ecke und hörte zu, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Dann stand er auf und sagte etwas, was keiner der damaligen Zuhörer jemals vergessen wird. Sein Gesicht war ganz bleich vor Erregung, und doch sprach er ruhig und gelassen, sehr ernst und bestimmt.
Sinngemäß sagte er: ‚Hören Sie doch mit dieser Kritik auf! Sie reden da über etwas, wovon Sie keine Ahnung haben. Bloße historische Fakten bedeuten hier gar nichts, weil sie die Lage damals nicht richtig wiedergeben können. Ein Fehler, sagen Sie, die Handkarrengruppe so spät auf den Weg zu schicken? Gewiss. Aber ich war dabei und meine Frau auch und Schwester Nellie Unthank, die Sie gerade erwähnt haben, ebenfalls. Wir haben mehr erlitten, als Sie sich vorstellen können, und viele sind erfroren oder verhungert. Aber haben Sie jemals gehört, dass einer der Überlebenden dieses Zuges auch nur ein kritisches Wort geäußert hat? …
Ich habe meinen Handkarren gezogen, obwohl ich infolge von Krankheit und Hunger so geschwächt und erschöpft war, dass ich kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Ich habe nach vorne geschaut und eine sandige Stelle oder einen Hügel gesehen und gesagt: Ich kann nur noch so weit laufen; dann gebe ich auf, denn ich kann die Last nicht mehr ziehen.‘
Weiter sagte er: ‚Ich bin bis zum Sand gelaufen, und als ich dort ankam, wurde ich plötzlich vom Handkarren geschoben. Ich habe mich oft umgedreht, um zu sehen, wer meinen Karren schob, aber mit den Augen konnte ich niemanden sehen. Da wusste ich, dass die Engel Gottes mit mir waren.
Habe ich es bereut, mit dem Handkarren hierher gekommen zu sein? Nein. Weder damals noch jemals danach. Den Preis, den wir zahlen mussten, um Gott zu erkennen, haben wir gern gezahlt, und ich bin dankbar dafür, mit der Handkarrengruppe Martin gezogen zu sein.‘“ 1
Das Feuer des Schmelzers
In diesen Worten steckt viel Wahres. Wenn wir Schmerzen und Qual ertragen und Schweres überstehen müssen, gehen wir sozusagen durch das Feuer des Schmelzers, und all das Unbedeutende in unserem Leben verglüht wie taubes Gestein, und unser Glaube wird stark, glänzend und geläutert. Das Antlitz Gottes spiegelt sich dann in unserer Seele wider. Dies ist ein Teil der Läuterung und des Preises, den manche zahlen müssen, um Gott kennen zu lernen. Wenn uns das Leben Schmerzen und Leid beschert, schenken wir der sanften, leisen Stimme des guten Hirten offenbar leichter Gehör.
Zu jedem Leben gehören mühselige, schmerzliche Zeiten voll Drangsal und Schicksalsschlägen. Jeder scheint sein volles Maß an Sorgen, Kummer und oft auch Leid, das uns das Herz zerreißt, zugeteilt zu bekommen, selbst diejenigen, die sich aufrichtig bemühen, das Rechte zu tun und treu zu sein. Der Apostel Paulus erwähnt, dass auch ihm etwas zu schaffen gemacht hat: „Damit ich mich … nicht überhebe, wurde mir ein Stachel ins Fleisch gestoßen: ein Bote Satans, der mich mit Fäusten schlagen soll.“ 2
Die Dornen, die uns stechen, die uns ins Fleisch dringen und schmerzen, verändern oft das Leben, das zuvor hoffnungslos und bedeutungslos erschien. Diese Veränderung kommt oft durch eine Läuterung zustande, die uns bisweilen schmerzhaft und grausam vorkommt. So kann die Seele in den Händen des Meisters aber werden wie weicher Ton, und er kann ein Leben voller Glauben, Schönheit und Kraft, ein Leben von Wert daraus formen. Bei manchen bewirkt das Feuer des Schmelzers, dass sie ihren Glauben verlieren und sich von Gott abwenden; wer aber alles aus der Sicht der Ewigkeit betrachtet, sieht ein, dass diese Läuterung uns hilft, vollkommen zu werden.
Alma hat gesagt: „Obgleich ein Hirte nach euch gerufen hat und noch immer nach euch ruft, … wollt [ihr] nicht auf seine Stimme hören!“ 3 Dadurch, dass wir schweres Leid zu ertragen haben, können wir von neuem geboren werden – in Herz und Geist ein neues Geschöpf werden. Wir lassen uns nicht länger vom Strom treiben, sondern genießen die Verheißung Jesajas, der uns „neue Kraft“ verspricht, uns emporzuschwingen mit Flügeln „wie Adler“. 4
Bevor wir ein Zeugnis erlangen, muss unser Glaube geprüft werden; das sagt schon Moroni: „Ein Zeugnis empfangt ihr erst, nachdem euer Glaube geprüft ist.“ 5 Diese Glaubensprüfung kann sich als äußert wertvolle Erfahrung erweisen.
Petrus sagt: „Dadurch soll sich euer Glaube bewähren, und es wird sich zeigen, dass er wertvoller ist als Gold, das im Feuer geprüft wurde und doch vergänglich ist. So wird (eurem Glauben) Lob, Herrlichkeit und Ehre zuteil bei der Offenbarung Jesu Christi.“ 6 Prüfungen und Ungemach können den Weg dafür bereiten, dass wir von neuem geboren werden.
Wir werden zu neuen Geschöpfen
Wenn wir durch geistige Drangsal von neuem geboren werden, macht uns das zu neuen Geschöpfen. Im Buch Mosia lesen wir, dass alle Menschen von neuem geboren werden müssen – geboren aus Gott, verwandelt, erlöst und emporgehoben –, um Söhne und Töchter Gottes zu werden. 7 Präsident Marion G. Romney (1897–1988), Erster Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, hat diese starke Kraft wie folgt geschildert: „Auch auf das Leben des Einzelnen wirkt sie sich in ähnlicher Weise aus. Niemand, dessen Seele vom brennenden Geist Gottes erleuchtet ist, kann in dieser Welt der Sünde und dichten Finsternis passiv bleiben. Ein unwiderstehlicher Drang treibt ihn dazu, sich bereitzumachen und aktiv für Gott einzutreten, um die Sache der Rechtschaffenheit voranzutreiben und Leben und Sinn der Menschen aus der Knechtschaft der Sünde zu befreien.“ 8
Wie man sich fühlt, wenn man von neuem geboren ist, schildert Elder Parley P. Pratt (1807–1857) vom Kollegium der Zwölf Apostel so: „Hätte man mir aufgetragen, die Welt auf den Kopf zu stellen, einen Berg abzutragen, an die Enden der Erde zu gehen oder die Wüsten Arabiens zu durchqueren, so wäre mir dies leichter gefallen als untätig zu bleiben, wo ich doch das heilige Priestertum innehatte. Ich habe die heilige Salbung empfangen und ich kann nicht ruhen, bis der letzte Feind überwunden, bis der Tod vernichtet ist und die Wahrheit siegreich regiert.“ 9
Viele unserer größten Prüfungen sind aber leider das Resultat unserer eigenen Unvernunft und Schwachheit und entspringen unserer Unachtsamkeit und unseren Übertretungen. Wollen wir diese Probleme lösen, müssen wir zuallererst auf den richtigen Weg zurückkehren und, wenn es denn sein muss, einen jeden Schritt gehen, der für die vollständige Umkehr erforderlich ist. Dank dieses großartigen Grundsatzes kann vieles ganz in Ordnung gebracht und alles besser gemacht werden.
Wir können andere um Hilfe bitten. Aber an wen können wir uns wenden? Elder Orson F. Whitney (1855–1931) vom Kollegium der Zwölf Apostel hat diese Frage gestellt und die folgende Antwort darauf gegeben:
„Bei wem finden wir in Zeiten der Not und des Kummers Hilfe und Trost? … Bei Männern und Frauen, die gelitten haben, und aus ihrer leidvollen Erfahrung schöpfen sie reiches Mitgefühl und Trost zum Segen für diejenigen, die im Augenblick darauf angewiesen sind. Könnten sie das auch, wenn sie nicht selbst gelitten hätten? …
Besteht nicht darin der Zweck des Leides, das Gott über seine Kinder kommen lässt? Er möchte, dass sie ihm ähnlicher werden. Gott hat weit mehr gelitten, als je ein Mensch gelitten hat oder leiden wird, und von ihm kommen daher Mitgefühl und Trost wie von niemand sonst.“
Jesaja hat den Erretter schon vor dessen Geburt als einen „Mann voller Schmerzen“ bezeichnet. 11 Und im Buch Lehre und Bündnisse sagt der Erretter über sich selbst: „Dieses Leiden ließ mich, selbst Gott, den Größten von allen, der Schmerzen wegen zittern und aus jeder Pore bluten und an Leib und Geist leiden – und ich wollte den bitteren Kelch nicht trinken und zurückschrecken.“ 12
So mancher neigt dazu, sein Ungemach als Strafe anzusehen. Roy W. Doxey schreibt dazu:
„Der Prophet Joseph Smith hat gelehrt, dass es eine falsche Vorstellung sei anzunehmen, die Heiligen würden dem Gericht der Letzten Tage völlig entgehen – Krankheit, Seuchen, Krieg usw.; demnach ist es also ein unheiliges Prinzip, wenn jemand sagt, dieses Ungemach sei die Folge von Übertretung. (Siehe Lehren des Propheten Joseph Smith, Seite 165.)
Präsident Joseph F. Smith hat gesagt, es sei falsch zu denken, dass Krankheiten und Prüfungen, die über uns kommen, der Gnade oder der Ungnade Gottes zuzuschreiben sind.“ 13
Paulus hat diesen Grundsatz völlig richtig verstanden. Er schreibt über den Erretter:
„Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden.“ 14
Menschen, die niemals aufgegeben haben
Es gibt Menschen, denen ein außergewöhnliches Maß an Leid zuteil wird. Stillman Pond gehörte in den Anfangstagen der Kirche in Nauvoo dem Zweiten Kollegium der Siebziger an. Er hatte sich früh der Kirche angeschlossen und stammte aus Hubbardston in Massachusetts. Wie so mancher andere wurden auch er, seine Frau, Maria, und die Kinder vom Pöbel belästigt und aus Nauvoo vertrieben. Sie schlossen sich im September 1846 denen an, die in den Westen ziehen wollten. Der frühe Wintereinbruch bescherte den Menschen äußerste Entbehrungen und schwere Krankheiten wie Malaria, Cholera und Tuberkulose. Die Familie von Stillman Pond wurde von allen drei Krankheiten heimgesucht.
Maria erkrankte an Tuberkulose, und die Kinder bekamen Malaria. Drei Kinder starben, als die Familie bei den ersten Schneefällen unterwegs war. Bruder Pond begrub sie auf der Prärie. Der Zustand seiner Frau verschlimmerte sich durch ihren Kummer, ihre Schmerzen und das Malariafieber. Sie konnte nicht mehr gehen. Schwach und krank, wie sie war, gebar sie Zwillinge. Die Eltern nannten sie Joseph und Hyrum; nur wenige Tage nach der Geburt starben die Kinder.
Familie Pond erreichte Winter Quarters; sie hauste wie so viele andere in einem Zelt und hatte große Entbehrungen zu ertragen. Der Verlust der fünf Kinder auf dem Weg nach Winter Quarters war aber erst der Anfang.
Aus dem Tagebuch von Horace K. und Helen Mar Whitney geht hervor, dass vier weitere Kinder von Stillman Pond ebenfalls gestorben sind:
„Am Mittwoch, dem 2. Dezember 1846, starb Laura Jane Pond im Alter von 14 Jahren … an Schüttelfrost und Fieber.“ Zwei Tage später, „am Freitag, dem 4. Dezember 1846, starb die elfjährige Harriet M. Pond … an Schüttelfrost“. Drei Tage später, „am Montag, dem 7. Dezember 1846, starb die 18-jährige Abigail A. Pond … an Schüttelfrost“. Und fünf Wochen darauf starb am „Freitag, dem 15. Januar 1847, der sechsjährige Lyman Pond … an Schüttelfrost und Fieber“. 15
Vier Monate später, am 17. Mai 1847, erlag auch Ponds Frau, Maria Davis Pond, ihrer Krankheit. Auf dem Weg über die Prärie hatte Stillman Pond neun Kinder und seine Frau verloren. Dennoch war er maßgeblich an der Gründung von Kolonien in Utah beteiligt und war einer der führenden Brüder der Siebzigerkollegien. Stillman Pond hatte zwar neun Kinder und seine Frau verloren, nicht aber seinen Glauben. Er gab nicht auf. Er machte weiter. Er zahlte den Preis – wie auch andere vor und nach ihm –, um Gott kennen zu lernen.
Die Botschaft des guten Hirten ist eine Botschaft der Hoffnung, der Kraft und der Befreiung für alle. Gäbe es die Nacht nicht, würden wir den Tag nicht schätzen, und wir könnten weder die Sterne noch die Weite des Himmels sehen. Wir müssen vom Bitteren ebenso wie vom Süßen trinken. Das Ungemach, das uns täglich begegnet, dient einem göttlichen Zweck. Es macht uns bereit, es läutert und reinigt uns und gereicht uns daher zum Segen.
Wenn man eine Rose pflückt, merkt man, dass man den Dornen nicht aus dem Weg gehen kann, die ja am selben Stängel wachsen.
Das Feuer des Schmelzers kann zu einer wunderbaren Befreiung führen. Dies kann eine edle, eine dauerhafte Neugeburt sein, denn man zahlt den Preis dafür, dass man Gott kennen lernt. Wir können heiligen Frieden finden. In uns schlummernde Kräfte werden geweckt. Der Mantel der Rechtschaffenheit wird um uns gelegt und gibt uns geistige Wärme. Das Selbstmitleid verfliegt angesichts der vielen Segnungen.
Die Segnungen der Ewigkeit werden gewiss denen zuteil, die den Läuterungsprozess ertragen, denn der Herr selbst sagt ja: „Nur der wird errettet, der bis ans Ende ausharrt.“ 16 Ich bezeuge, dass Jesus der Messias, der Erlöser ist. Er lebt! Von ihm kommen die angenehmen Worte des ewigen Lebens.
Wenn Sie mehr Informationen über die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) herausfinden wollen, dann besuchen Sie einfach die offiziellen Webseiten der Kirche lds.org und mormon.org.