„Wir glauben, daß es recht ist, Königen, Präsidenten, Herrschern und Obrigkeiten untertan zu sein und dem Gesetz zu gehorchen, es zu achten und für es einzutreten.“ (12. Glaubensartikel)
„Gehorsam ist das erste Gesetz des Himmels.“ (Verkündet mein Evangelium, S. 143)
Diese Zitate sind nur einige unter vielen, die eines deutlich machen: Der Gehorsam ist zentral und tief im Glauben und Leben der Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage verankert. Er spielt eine wesentliche Rolle im Plan der Erlösung und ist nicht zuletzt die Bedingung für unsere Rückkehr in die Gegenwart Gottes.
Gehorsam im Nationalsozialismus
Doch heutzutage hat das Wort „Gehorsam“ und die damit beschriebene Eigenschaft immer häufiger einen faden Beigeschmack. Der Begriff wird zum Teil sogar den zentralen Tugenden der Aufklärung, der Mündigkeit, der Selbstbestimmung und dem freien Willen diametral entgegengesetzt. Grund dafür sind unter anderem traurige Erfahrungen aus der Vergangenheit, in denen blinder Gehorsam unsagbares und entsetzliches Leid verursachte. In der deutschen Geschichte fällt einem in diesem Zusammenhang immer zunächst der Nationalsozialismus ein, dessen unhinterfragte Ideologie in eine Katastrophe mündete. Dieses Beispiel ist vielleicht das prominenteste und schrecklichste, jedoch bei weitem nicht das einzige.
Wie steht es nun um den Gehorsam in solchen Umständen? Wie lässt sich der zwölfte Glaubensartikel in diesem Kontext rechtfertigen? Oder verlor er zu jenen Zeiten seine Gültigkeit? Die meisten von Ihnen werden an dieser Stelle intuitiv zum Ausdruck bringen, dass der Gehorsam gegenüber der Obrigkeit während des NS-Regimes ausgesetzt war. Doch vielleicht fällt es dem ein oder anderen weniger leicht, diese Meinung auch zu begründen. Ich möchte an dieser Stelle versuchen, Kriterien für die Angemessenheit zivilen Gehorsams zu geben und den Geltungsbereich des zwölften Glaubensartikels möglichst klar zu definieren.
Blinder Gehorsam
Blinder Gehorsam – als Gehorsam gegenüber einem Gebot, dessen Sinn wir nicht verstehen – ist im Evangelium Jesu Christi nicht unbekannt.
„Manchmal wird vielleicht etwas von Ihnen verlangt, was Sie nicht ganz verstehen. Wenn Sie gehorsam sind, erlangen Sie mehr Glauben, Erkenntnis, Weisheit, Gewissheit, Schutz und Freiheit“ (Verkündet mein Evangelium, S. 143).
Diese Art des Gehorsams ist häufig eine Voraussetzung dafür, ein Zeugnis von einem bestimmten Gebot zu erlangen. Die gefährlichen Tendenzen, die er in sich trägt, werden durch zwei Mechanismen begrenzt:
- durch eine Reduktion der „befehlshabenden Instanzen“ und
- durch die Eingliederung des Auftrags in ein bestehendes System von göttlichen Geboten.
Konkret bedeutet dies, dass das Gebot oder Gesetz, dessen Moralität in Frage steht und dessen Befolgung auch ohne unser Verständnis – also blind – erwartet wird, zum einen von mindestens einer der folgenden Instanzen geäußert worden sein muss: von einem Mitglied der Gottheit, dem Propheten oder unseren Priestertumsführern (vgl. Verkündet mein Evangelium, S. 143). Genannt wurden hier die verschiedenen Kanäle der Vermittlung, doch ihren Ursprung finden moralische Gebote immer nur an einer Quelle: unserem himmlischen Vater. Ob er der Urheber ist, kann und soll im persönlichen Gebet erfragt werden. Wenn auch eine affirmative Antwort ausbleibt, etwa um unseren Glauben zu testen, können wir zumindest darauf vertrauen, dass Gott uns wissen lassen wird, falls das Gebot nicht von ihm stammt – denn er wird uns nicht in die Irre führen (vgl. Amtliche Erklärung 1).
Ob eine Anordnung von Gott stammt, kann zum anderen durch den zweiten Mechanismus überprüft werden. Widerspricht ein Gebot bereits vorhandenen oder läuft es zentralen Aspekten des Evangeliums zuwider, stammt es höchstwahrscheinlich nicht von Gott. Was Gott gesagt hat, das hat er gesagt. Er ist ein unveränderlicher Gott (Lehre und Bündnisse 20:17, Moroni 8:18, Matthäus 24:35). Er gebietet nicht heute das eine und morgen das Gegenteil.
Gehorsam im Alltag
Falls sich an dieser Stelle der ein oder andere Jugendliche in seiner Rebellion freut, weil er anscheinend seinen Eltern nicht zu Gehorsam verpflichtet ist, da diese keiner der drei befehlshabenden Instanzen angehören, sei kurz angemerkt, dass sich die beschriebenen Mechanismen nur auf moralische Gebote beziehen – also nur auf solche, die unter die Kategorien Gut und Böse fallen. Die allermeisten Anweisungen von uns „Vorgesetzten“ – seien es unsere Eltern, unser Chef auf der Arbeit, der Staat oder sonst wer – sind jedoch moralisch absolut indifferent. Wenn die Mutter zum Saugen auffordert, der Abteilungsleiter nach einem neuen Stapel Papier verlangt oder der Staat die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h begrenzt, ist daran nichts gut oder böse. Die Befolgung solcher „Gebote“ ist laut zwölftem Glaubensartikel und dem Gebot, Vater und Mutter zu ehren, jedoch Pflicht und erst durch ihre Achtung beziehungsweise Missachtung werden sie um eine moralische Dimension ergänzt.
Doch genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Was, wenn diese Menschen etwas befehlen, was böse ist – was den moralischen Geboten widerspricht? Die kurze Antwort ist: In diesen Fällen ist der Ungehorsam geboten. Doch wieso? Dafür gibt es zwei Argumente, die bereits im Interview des Senders SRF Kultur mit dem Sozialphilosophen Robin Celikates als Rechtfertigung für zivilen Ungehorsam hervorgebracht wurden. Das erste Argument bezieht sich auf den Gehorsam allgemein, das zweite fokussiert sich auf den Gehorsam gegenüber dem Staat.
Welche Gebote haben Priorität?
Grob gesagt, existieren drei Arten von Gesetzen: juristische, pragmatische und moralische. Obwohl es meist eine Schnittmenge dieser drei Bereiche gibt, sind sie in den modernen Gesellschaften nie ganz deckungsgleich. Das liegt schon daran, dass die Vorstellung von den moralischen Gesetzen innerhalb einer multikulturellen und pluralistischen Gesellschaft nie homogen ist. Christen folgen anderen Gesetzen als Muslime. Muslime anderen als Hindus. Und für Hindus wiederum sind andere Gesetze von moralischer Relevanz als für Atheisten. Selbst innerhalb der verschiedenen Konfessionen und Ausprägungen dieser Religionen gibt es unterschiedliche Vorstellungen von dem, was richtig und falsch ist. Es ist demnach in bestimmten Situationen unmöglich, alle drei Arten von Gesetzen zu befolgen. Einer muss Priorität über den anderen zugestanden werden.
Allen moralischen Geboten ist eines gemein: Sie stammen von einer über dem Menschen stehenden Instanz. Bei religiösen Menschen ist das zumeist Gott. Bei Atheisten kann diese Position unterschiedlich besetzt werden, gängig wäre beispielsweise die Vernunft als moralischer Gesetzgeber. Konzentrieren wir uns hier auf Gott als Ursprung der Gebote. Gott ist per Definition perfekt. Er macht keine Fehler. Er bestimmt die Moral – entscheidet darüber, was gut und was böse ist. Daher führt die Befolgung seiner Gebote zu guten Taten, die Missachtung zu schlechten. Gläubige Menschen gehorchen Gott nicht zuletzt deshalb, weil dieser über ihr ewiges Wohl entscheidet. Und diese Entscheidung trifft er zumindest zum Teil auf der Grundlage seiner Maßstäbe – den Geboten. Deshalb hat das Halten der Gebote Gottes für Gläubige – in der Theorie – einen absoluten Stellenwert.
Der Ursprung der juristischen Gebote, Gesetze genannt, ist der Staat. Dieser ist weder perfekt noch Ursprung von moralischen Maßstäben. Seine Gesetze als oberste Richtlinie anzuerkennen, wäre den Mord oder die Beihilfe zum Mord im Nationalsozialismus als legitim zu bewerten. Das widerstrebt unserer moralischen Intuition. Deshalb ist die Befolgung seiner Gebote zweitrangig. Selbiges gilt für die Urheber der pragmatischen Gebote (Eltern, Vorgesetzte, etc.) – auch sie unterliegen der menschlichen Fehlbarkeit. Ihre Gebote sind daher denen Gottes ebenfalls untergeordnet.
Untergeordnet heißt hier, dass die Befolgung von juristischen und pragmatischen Gesetzen nur dann geboten ist, wenn sie nicht im Konflikt mit den moralischen stehen. Widersprechen sie den Geboten Gottes, so ist der Ungehorsam gegenüber dem Staat oder Vorgesetzten und Gehorsam gegenüber Gott geboten. Für atheistische Ansätze gilt dasselbe: In der Moralphilosophie des großen Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant ist die Vernunft der Gesetzgeber – nicht Gott. Doch auch bei ihm wird zwischen primären und sekundären Pflichten entschieden. Der Gehorsam gehört zu den sekundären, dessen Ausübung nur dann geboten ist, wenn diese nicht im Widerspruch zu den primären steht.
Perfekte Demokratie?
Das zweite Argument bezieht sich explizit auf den Gehorsam gegenüber dem Staat. Es ist im Grunde ganz einfach. Ziel jeden demokratischen Bestrebens ist eine perfekte Demokratie. Doch die Demokratie in der wir leben, ist imperfekt und vorläufig. Es bedarf einer fortlaufenden „Demokratisierung der Demokratie“. Die Bewohner Deutschlands im 19. Jahrhundert hatten genauso gute Gründe zu glauben, sie lebten in einer perfekten, nicht verbesserungsbedürftigen Demokratie wie wir heute. Erst in der Retroperspektive zeigt sich, welcher Handlungsbedarf zu einer gegebenen Zeit bestand. Die Frauenbewegung, die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte und nach Jahren des sozialen Kampfes bedeutende Errungenschaften wie das Frauenwahlrecht verzeichnen konnte, wird heute als notwendige und legitime Bewegung anerkannt, die zur Verbesserung der Demokratie maßgeblich beigetragen hat. Es sind zumeist Randgruppen, die auf Probleme im bestehenden Rechtssystem aufmerksam machen, weil sie diese in ihrem eigenen Leben zu spüren bekommen. Dieser Prozess der Demokratisierung hält auch heute weiter an. Denn wenn diese Formen des zivilen Ungehorsams und Protestes damals notwendig waren, dann sind sie es wahrscheinlich auch noch heute. Überall da, wo moralische Gebote missachtet werden, wird Ungehorsam und Widerstand zur Pflicht. Wie christusähnlicher Protest auszusehen hat, habe ich bereits in einem vorherigen Artikel skizziert.
Gehorsam? Ja – Um jeden Preis? Nein
Kommen wir zum Schluss auf die eingangs aufgeworfenen Fragen zurück: War der zwölfte Glaubensartikel während des NS-Regimes außer Kraft gesetzt? Ja, zumindest dort, wo die juristischen Gesetze der Nationalsozialisten in direktem Widerspruch zu den moralischen Gesetzen Gottes standen, weil letzteren Priorität über ersteren gebührt. Unrecht wird nicht dadurch zu Recht, dass es sich im Gewand eines Gesetzes tarnt. Unsere oberste Loyalität gilt dem unfehlbaren moralischen Gesetzgeber – nicht dem fehlbaren weltlichen. Wir sehen also, dass der Gehorsam kein absolutes Ideal ist. Der Gehorsam gegenüber Menschen hat Grenzen. Der Gehorsam gegenüber Gott und seinen Geboten jedoch nicht. Der Ungehorsam gegenüber dem Staat oder anderen ist eine logische Konsequenz des Gehorsams gegenüber Gott, wenn sich ihre Gebote gegenseitig ausschließen. Stimmen ihre Gebote jedoch überein oder sind die Gesetze des Staates moralisch indifferent, ist ihnen Folge zu leisten. Mitglieder der Kirche Jesu Christi versuchen gute Staatsbürger zu sein. Sie gehorchen dem Gesetz und treten für es ein. Doch ihr Gehorsam kennt Grenzen. Sie werden kein Unrecht unterstützen und keine Übel im Namen des Gesetzes begehen.
Über den Autor:
Urs Wrenger machte seinen Abschluss in Philosophie und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum. Er versucht die Philosophie als konstruktive Disziplin in der Gesellschaft zu reetablieren und auch für religiöse Themen produktiv zu machen. Wenn Urs nicht gerade liest, geht er wandern, befindet sich im Fitnessstudio oder genießt Rock ‘n’ Roll aus den 60er- bis 90er-Jahren.
Dieser Artikel wurde von Urs Wrenger verfasst und am 11.08.2020 auf treuimglauben.de veröffentlicht.
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