Schock. Wut. Trauer.

Das ist die Reihenfolge von Emotionen, die ich empfand, als ich von dem Tod des 46-jährigen George Floyd in Minneapolis erfuhr. Ich war zuvor schon dutzende Male von im Internet und auf sozialen Medien kursierenden Videos von letalen Polizeieinsätzen in den USA zutiefst betrübt und schockiert worden. Die Brutalität, mit der Menschen gegeneinander vorgehen, ist frappierend und erfüllt mich immer wieder aufs Neue mit tiefer Trauer. Umso unverständlicher ist es, wenn die Gewalt von Personen mit einem Schutzauftrag gegenüber denjenigen ausgeht, die Opfer ihrer Aggressionen werden. Die Aufgabe der Polizei ist es, Rechtsstaatlichkeit, Ordnung und die physische Unversehrtheit der Bürger zu garantieren – und nicht diese zu unterminieren.

Zu lesen ist ein Graffiti mit der Aufschrift "I can't breathe"; das waren die Worte von dem durch einen Polizisten erstickten US-Bürger George Floyd, bevor er starb.

Mit Freude und Zustimmung empfing ich deshalb die Nachricht einer aufwallenden Protestwelle, die gegen Polizeigewalt und den strukturellen Rassismus in den Vereinigten Staaten protestiert. Friedliche Demonstrationen sind seit jeher Zeichen und Merkmal einer lebendigen Demokratie und einer politisch engagierten Öffentlichkeit. Doch genauso schnell wie diese Proteste meine Freude, Zustimmung und Unterstützung gewannen, musste ich sie partiell wieder entziehen. Zu martialisch, zu anarchisch – zu unchristlich waren die Bilder von brennenden Autos, geplünderten Geschäften und gewaltbereiten Demonstranten.

Diese eskalierende Art des Protestes ist zum Glück die Ausnahme, denn sie ist nicht nur aus moralischer Sicht fragwürdig, sondern verfehlt auch ihren Zweck. Anstatt die Gewalt zu beenden, wird sie gefördert. Anstatt die unberechtigte Angst vor Afroamerikanern zu nehmen, wird sie genährt. Anstatt das rassistische Klischee des gefährlichen Schwarzen zu widerlegen, wird es fundiert. Das Gesicht der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, Dr. Martin Luther King Jr., sprach sich selbst wohl am stärksten gegen die Nutzung von Gewalt als probatem Mittel zur Emanzipation aus:

„Die ultimative Schwäche von Gewalt ist die, dass sie eine absteigende Spirale ist – sie erzeugt genau das, was sie zu zerstören sucht. Anstatt das Böse zu verringern, vervielfacht sie es. Durch Gewalt magst du den Lügner ermorden, aber du kannst weder die Lüge töten, noch die Wahrheit aufrichten. Durch Gewalt ermordest du den Hasser, aber du tötest nicht den Hass. In Wirklichkeit vergrößert Gewalt den Hass lediglich […]. Mit Gewalt auf Gewalt zu antworten, vervielfacht die Gewalt, fügt nur noch tiefere Dunkelheit zu einer ohnehin schon sternenlosen Nacht hinzu. Dunkelheit kann keine Dunkelheit vertreiben; das kann nur Licht. Hass kann keinen Hass verdrängen; nur Liebe vermag das zu tun.“ (1)

Gerade weil ich möchte, dass diese Proteste die Welt verändern, ihre Ziele erreichen – den Rassismus und unangemessene Polizeigewalt für immer aus dieser Welt verbannen –, möchte ich in diesem Artikel eine moralische, effektive und vor allem christusähnliche Weise des Protestes skizzieren. Als Vorlage dienen dafür einschlägige Beispiele aus den Heiligen Schriften:

Abinadi

Abinadi war ein Mann, der Opfer von staatlicher Gewalt und justizieller Willkür wurde, weil er unangenehme Wahrheiten aussprach und den Menschen ihre Heuchelei vor Augen führte. Er lehrte König Noah und seinen Priestern die Zehn Gebote – Gebote, mit denen sie gut vertraut waren und deren Befolgung sie fingierten. Auf die Frage Abinadis: „Was also lehrt ihr dieses Volk?“, erwiderten diese lakonisch: „Wir lehren das Gesetz des Mose.“ Abinadis Replik ist ebenso scharf wie aktuell: „Wenn ihr das Gesetz des Mose lehrt, warum haltet ihr es nicht?“ (Mosia 12:27-29)

Die Proteste des Propheten Abiniadi im Buch Mormon, der das Volk zur Umkehr aufrief, endeten für diesen mit dem Tod durch Verbennen. Hier ist Abinadi vor dem damaligen König und dessen Richter zu sehen.

Das Problem, das der Welt und der amerikanischen Regierung durch die unzähligen Demonstranten vor Augen geführt wird, ist die große Diskrepanz zwischen politischen Beteuerungen und Lamentationen und der gesellschaftlichen Praxis. Dahingehend befragt, würden wohl – anders als noch bei dem Sezessionskrieg vor rund 150 Jahren – nur die wenigsten Amerikaner bekunden, eine absolute Gleichstellung und Gleichbehandlung von Weiß und Schwarz abzulehnen. Ihre Taten sprechen jedoch zum Teil eine andere Sprache. Abinadi und die Demonstranten der BlackLivesMatter-Bewegung weisen also auf dasselbe Phänomen hin: eine tiefe Kluft zwischen Wort und Tat.

Der Unterschied liegt jedoch partiell in der Art und Weise des Hinweisens. Abinadi geht einen friedlichen Weg, an dessen Ende ein Bekehrter, Alma der Ältere, und die Aufrichtung der Kirche Gottes unter dem Volk Nephi stehen – sein Protest war erfolgreich.

Alma und Amulek

Alma und Amulek wurden Zeugen unsagbaren Leids und unvorstellbarer Ungerechtigkeit, als sie mitansehen mussten, wie die Gläubigen der Stadt Ammoniha, die zuvor ihren Worten geglaubt hatten und umgekehrt waren, mitsamt ihren heiligen Schriften ins Feuer geworfen wurden. Ich kann nur erahnen, welche Wut und welche Trauer diese beiden Männer im Angesicht eines solchen Verbrechens erfüllt haben muss. Amulek fasst die natürliche Reaktion eines jeden empathischen Menschen in einem Aufschrei des Schmerzes zusammen: „Wie können wir dieses furchtbare Geschehen mit ansehen? Lass uns darum die Hand ausstrecken und die Macht Gottes, die in uns ist, anwenden und sie aus den Flammen retten.“ (Alma 14:10)

Zu sehen sind die Propheten Alma und Amulek, die gefesselt mit ansehen müssen, wie Menschen verbrannt werden, nur weil sie ihren Glauben an Jesus Christus teilen.

Doch Alma eröffnet in seiner Antwort auf diesen verzweifelten Ausruf eine Perspektive, die uns sterblichen und begrenzten Menschen vollkommen fremd ist, unnatürlich wirkt, ja, uns geradezu widerstrebt – die Perspektive der Ewigkeit:

„Der Geist drängt mich, meine Hand nicht auszustrecken; denn siehe, der Herr nimmt sie zu sich auf in Herrlichkeit; und er lässt zu, dass sie dies tun, ja, dass die Menschen ihnen dies antun können gemäß ihrer Herzenshärte, damit die Richtersprüche, die er in seinem Grimm auf sie anwenden wird, gerecht seien; und das Blut der Unschuldigen wird als Zeuge gegen sie dastehen, ja, und am letzten Tag mächtig gegen sie schreien.“ (Alma 14:11)

Täglich werden Menschen aufgrund eines Pigments in ihrer Haut Opfer unbeschreiblicher Ungerechtigkeit und rassistischer Diskriminierung. Die natürliche und verständliche Reaktion ist ein aktives Beenden dieses Missstandes – wenn nötig mit Gewalt. Doch wie dankbar bin ich, dass eine überwältigende Mehrheit der Demonstranten, selbst wenn von den Einsatzkräften provoziert und attackiert, dem Beispiel Almas und Amuleks – wenn auch unwissend – folgt. Nachdem diese den Feuertod von Menschen miterleben mussten, die sie zu lieben gelernt hatten, wurden sie vom obersten Richter des Landes höhnisch gefragt, ob sie dem Volk weiter predigen und für die Wahrheit einstehen wollten. Alma und Amulek beantworteten diese Frage nicht mit Worten, sondern mit einem affirmativen Schweigen. Sie hörten nicht auf, die Wahrheit zu verkünden. Auch wenn sie schwiegen, gaben sie Zeugnis, indem sie ihre Botschaft lebten.

Jesus Christus

Zu sehen ist Jesus Christus mit einem Strick um den Hals und gefesselten Händen, nachdem er festgenommen wurde.

Das ultimative Beispiel für friedlichen Protest, unverschuldetes Leid und immense Ungerechtigkeit ist – wie so oft – der Erretter selbst. Sein Leben ist das ultimative Exempel der Botschaft, die er zu verkünden kam. Es zeichnet sich durch eine vollkommene Kongruenz von Wort und Tat aus – und wir sollen seinem Beispiel folgen.

Nach Jahren des Predigens und nach unzähligen Wundertaten, die nahezu allesamt dazu dienten, eines Menschen Schmerz und Gebrechen zu lindern, wurde Christus für ein Verbrechen hingerichtet, das er nicht begangen hatte: das Aufstacheln und Verführen des Volkes zu zivilem Ungehorsam und einer Missachtung staatlicher Gesetze. Doch Jesus war weder ein spaltender Agitator noch ein Unruhestifter. Seine Botschaft war nicht politischer Natur. Er plädierte sogar explizit dafür, dem Kaiser das seinige zu geben (vgl. Matthäus 22:21).

Auch Menschen dunkler Hautfarbe werden in den USA – aber nicht nur dort – besonders häufig Opfer auf Verdacht beruhender und illegitimer Verhaftungen – die leider wie im Fall von George Floyd mitunter tödlich enden. Christus hatte als Sohn Gottes die Macht, seine Verfolger und Schmäher entweder selbst oder durch Legionen von Engeln für immer zum Schweigen zu bringen (vgl. Matthäus 26:53). Doch er tat es nicht. Seine Taten gaben Zeugnis von seiner göttlichen Botschaft der Liebe – und erlaubten seiner Lehre, die Welt zu verändern.

Was ist all diesen Beispielen gemein?

Abinadi, Alma, Amulek und Jesus – sie alle ließen nicht zu, dass die Art ihres Protestes ihre Botschaft diskreditiert. Eine Botschaft der Liebe kann nicht mit Gewalt verbreitet werden, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Eine Demonstration gegen Polizeigewalt und Rassismus kann ihr Ziel nicht mit Gewalt gegen Polizeibeamte und Hass erreichen.

„Dunkelheit kann keine Dunkelheit vertreiben; das kann nur Licht.“

Meine Worte sollen ein Appell an die Demonstranten sein, die ihre absolut berechtigten Emotionen der Wut und Trauer in unberechtigten Hass und illegitime Gewalt umschlagen lassen. Schließt Euch bitte den friedlichen Protesten an! Lasst Euer Leben ein Exempel für Eure Botschaft sein. Nur so verändert Ihr die Welt. Nur so macht Ihr sie zu einem besseren Ort. Nur dadurch erreicht Ihr Euer Ziel:

Sicherheit. Gerechtigkeit. Liebe.

Für alle Menschen.

Meine Gedanken und Gebete richten sich an George Floyd und seine Angehörigen sowie alle Opfer von Polizeigewalt und rassistischer Diskriminierung auf der gesamten Welt. Ich stehe an Eurer Seite. #BlackLivesMatter.

Zu sehen sind Proteste einer friedlichen Gruppe von Demosntranten zur "Black Lives Matter" - Bewegung.

Quellen:

Martin-Luther-King-Zitat: „The ultimate weakness of violence is that it is a descending spiral, begetting the very thing it seeks to destroy. Instead of diminishing evil, it multiplies it. Through violence you may murder the liar, but you cannot murder the lie, nor establish the truth. Through violence you murder the hater, but you do not murder hate. In fact, violence merely increases hate…Returning violence for violence multiplies violence, adding deeper darkness to a night already devoid of stars. Darkness cannot drive out darkness; only light can do that. Hate cannot drive out hate; only love can do that.” (ins Deutsche vom Autor übersetzt)


Über den Autor:

Urs Wrenger machte seinen Abschluss in Philosophie und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum. Er versucht die Philosophie als konstruktive Disziplin in der Gesellschaft zu reetablieren und auch für religiöse Themen produktiv zu machen. Wenn Urs nicht gerade liest, geht er wandern, befindet sich im Fitnessstudio oder genießt Rock ‘n’ Roll aus den 60er- bis 90er-Jahren.

Dieser Artikel wurde von Urs Wrenger verfasst und am 09.06.2020 auf treuimglauben.de veröffentlicht.

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