Stell dir vor, es ist das Jahr 1844. Joseph Smith, der Gründer und Prophet der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, ist tot – ermordet von einem wütenden Mob, während er in einem Gefängnis in Carthage, Illinois, auf seinen Prozess wartete. Sein Tod hinterlässt erst einmal eine tiefe Unsicherheit unter den Gläubigen. Wer soll nun die Führung übernehmen? Während Brigham Young von vielen als legitimer Nachfolger angesehen wird und die Mehrheit der Gläubigen in den Westen nach Utah führt, gibt es andere, die glauben, dass Joseph Smiths Familie oder ein anderer Führer seine Rolle übernehmen sollte. Diese Uneinigkeit führte zur Entstehung mehrerer Abspaltungen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, die bis heute existieren.

Historische Abspaltungen nach Joseph Smiths Tod

Nach dem Tod von Joseph Smith entstand eine Krise um die Frage der Nachfolge. Brigham Young übernahm die Führung der Kirche und führte die Heiligen in den Westen nach Utah, wo sie sich niederließen und zu einer stabilen, wachsenden Glaubensgemeinschaft wurden. Einige bildeten eigene Gemeinschaften, die bis heute bestehen – jede mit eigenen Schwerpunkten und theologischen Unterschieden. Hier ein grober Überblick über Abspaltungen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage:

Gemeinschaft Christi (Community of Christ) – Eine alternative Entwicklung

Die Gemeinschaft Christi unterscheidet sich in mehreren Aspekten von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Nach dem Tod Joseph Smiths folgte sie nicht Brigham Young nach Westen, sondern entwickelte sich später unter der Führung von Joseph Smith III als eine eigenständige Glaubensgemeinschaft. Theologisch betrachtet legt sie mehr Gewicht auf die Bibel, während das Buch Mormon zwar anerkannt, aber nicht in gleicher Weise zentral gestellt wird. Ihre Auffassung von Gott entspricht der trinitarischen Sichtweise, die in vielen christlichen Kirchen vertreten wird, und sie hat sich von bestimmten frühen Lehren der Bewegung der Heiligen der Letzten Tage, wie der Vorstellung eines fortschreitenden göttlichen Potenzials des Menschen, entfernt.

Auch in ihrer Kirchenstruktur gibt es Unterschiede: Die Gemeinschaft Christi setzt auf eine demokratische Führung, in der der Präsident durch Abstimmung gewählt wird und nicht als Prophet in derselben Funktion wie in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage angesehen wird. Ihre Gottesdienst- und Tempelpraxis unterscheidet sich ebenfalls. Sie besitzt nur einen Tempel in Independence, Missouri, der für Gebet, Versammlungen und geistliche Reflexion genutzt wird, jedoch nicht für Tempelzeremonien wie in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.

In gesellschaftlichen Fragen verfolgt die Gemeinschaft Christi eine liberalere Linie und hat Veränderungen in ihrer Lehre und Praxis vorgenommen. Sie ermöglicht die Ordination von Frauen, befürwortet die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und nimmt eine offenere Haltung gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen ein. Mit weltweit etwa 250.000 Mitgliedern ist sie deutlich kleiner als die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, wobei sich ihre Mitglieder hauptsächlich in Nordamerika und auf pazifischen Inseln konzentrieren. Im Laufe der Zeit hat sich die Gemeinschaft Christi in vielen Aspekten von der ursprünglichen Bewegung der Heiligen der Letzten Tage entfernt und nähert sich in Lehre und Praxis eher traditionellen protestantischen Kirchen an.

Strangiten – Eine vergessene Bewegung

Die Strangiten, offiziell bekannt als Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage – Strangitischer Zweig, sind eine kleinere Gruppierung innerhalb der Bewegung der Heiligen der Letzten Tage, die nach dem Tod Joseph Smiths James J. Strang als seinen rechtmäßigen Nachfolger anerkannten. Strang behauptete, durch einen Brief von Joseph Smith selbst als Prophet bestimmt worden zu sein, und gewann einige Anhänger, die sich zunächst in Voree, Wisconsin, und später auf Beaver Island, Michigan, ansiedelten.

Theologisch unterscheiden sich die Strangiten in mehreren Punkten von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Neben der Bibel und dem Buch Mormon akzeptieren sie zusätzliche Offenbarungen Strangs, darunter das Buch der Gesetze des Herrn. Während sie zunächst die Mehrfachehe ablehnten, wurde sie später unter Strangs Führung eingeführt. Ihre Kirchenstruktur unterschied sich ebenfalls, da Strang sich selbst zum Propheten, Seher und sogar König seiner Gemeinschaft ernennen ließ.

Nach Strangs Ermordung im Jahr 1856 zerfiel die Bewegung weitgehend, und viele Anhänger schlossen sich anderen Gruppen der Heiligen der Letzten Tage an. Heute existieren nur noch kleine Gemeinden mit weniger als 500 Mitgliedern, hauptsächlich in Michigan und Wisconsin. Die Strangiten spielen heute nur noch eine marginale Rolle innerhalb der Bewegung der Heiligen der Letzten Tage, bleiben aber eine interessante historische Abspaltung mit einzigartigen Lehren und einer eigenen Entwicklung.

Godbeites – Eine alternative Bewegung des 19. Jahrhunderts

Die Godbeiten: Eine reformorientierte Abspaltung

Die Godbeiten waren eine Gruppe innerhalb der Bewegung der Heiligen der Letzten Tage, die sich in den späten 1860er Jahren von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage abspaltete. Ihr Name leitet sich von William S. Godbe ab, einem wohlhabenden Geschäftsmann aus Utah, der mit anderen Intellektuellen die wirtschaftliche und geistige Führung der Kirche unter Brigham Young infrage stellte.

Theologisch unterschieden sich die Godbeiten durch eine liberalere und rationalere Sichtweise auf den Glauben. Sie waren stark vom Spiritismus und Transzendentalismus beeinflusst und lehnten die strikte kirchliche Autorität sowie den wirtschaftlichen Einfluss der Kirche in Utah ab. Sie glaubten an persönliche Offenbarung, förderten eine wissenschaftsfreundliche Weltanschauung und setzten sich für wirtschaftliche Reformen ein.

Die Bewegung hatte nur begrenzten Einfluss und wurde nie zu einer eigenständigen Kirche. Stattdessen gründeten die Godbeiten die Zeitung The Utah Magazine, die später zur Salt Lake Tribune wurde – eine Zeitung, die oft als kritische Stimme gegenüber der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage galt. Letztendlich schlossen sich viele ehemalige Godbeiten anderen Gruppen an oder wurden Teil der allgemeinen Gesellschaft in Utah.

Heute existiert keine eigenständige godbeitische Kirche, aber ihre Ideen beeinflussten die Entwicklung alternativer Glaubensströmungen innerhalb der Heiligen der Letzten Tage und trugen zur Pluralisierung religiöser Überzeugungen in Utah bei.

Moderne Abspaltungen und ihre Unterschiede zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage

Im Laufe der Zeit entstanden weitere Abspaltungen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, meist durch Unzufriedenheit mit Entscheidungen der wahren Kirche.

Fundamentalistische Bewegungen – Das Erbe der Polygamie

Fundamentalistische Bewegungen innerhalb der Heiligen der Letzten Tage entstanden vor allem nach der offiziellen Abschaffung der Mehrfachehe (Polygamie) durch die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage im Jahr 1890. Einige Mitglieder hielten an der Praxis fest, da sie sie als göttliches Gebot betrachteten, und trennten sich von der Hauptkirche oder wurden exkommuniziert. Diese Gruppen entwickelten sich unabhängig weiter und gründeten eigene Glaubensgemeinschaften mit abweichenden Ansichten zur Autorität der Kirche Jesu Christi, zur Prophetennachfolge und zu bestimmten Lehren.

Zu den bekanntesten fundamentalistischen Gruppen gehören:

  • Fundamentalistische Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (FLDS) – bekannt für ihre abgeschotteten Gemeinschaften und die Fortsetzung der Polygamie, vor allem in Utah, Arizona und Texas.
  • Apostolic United Brethren (AUB) – eine gemäßigtere fundamentalistische Gruppe, die Polygamie praktiziert, aber gesellschaftlich integrierter ist.
  • Church of the Firstborn of the Fulness of Times – eine kleinere fundamentalistische Bewegung, die ebenfalls an frühen Lehren von Joseph Smith festhält.
  • Righteous Branch of the Church of Jesus Christ of Latter-day Saints – eine Abspaltung, die sich auf die ursprünglichen Tempelrituale und Offenbarungen beruft.
  • The Kingston Group (Latter Day Church of Christ) – eine geheimnisvolle fundamentalistische Gruppe, die auch wirtschaftlich eng miteinander verflochten ist.
  • Centennial Park Group – eine Abspaltung der FLDS, die eine moderatere Sichtweise vertritt.
  • Church of Jesus Christ (Original Doctrine) – eine fundamentalistische Bewegung, die sich nach internen Spaltungen innerhalb der FLDS gebildet hat.

Während einige dieser Gemeinschaften abgeschottet leben und eigene Propheten beanspruchen, stehen andere fundamentalistische Bewegungen der modernen Gesellschaft offener gegenüber. Ein gemeinsames Merkmal vieler dieser Gruppen ist die fortgesetzte Praxis der Polygamie, die von der Kirche Jesu Christi heute strikt abgelehnt wird. Aufgrund der Illegalität der Mehrfachehe stehen einige fundamentalistische Gruppen unter Beobachtung und haben in der Vergangenheit rechtliche und gesellschaftliche Herausforderungen erlebt.

Heutzutage gibt es geschätzte 30.000 bis 50.000 Anhänger fundamentalistischer Bewegungen weltweit, vor allem in den USA, Kanada und Mexiko. Die Kirche Jesu Christi distanziert sich klar von diesen Gruppen und betont, dass sie keine Verbindung zu ihnen hat. Obwohl fundamentalistische Bewegungen nur eine kleine Minderheit innerhalb der Heiligen der Letzten Tage darstellen, haben sie historisch und kulturell eine gewisse Bedeutung, insbesondere in Regionen mit einer hohen Bevölkerungszahl von Heiligen der Letzten Tage.

Abspaltungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz

In Deutschland, Österreich und der Schweiz existieren nur wenige Abspaltungen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Die Gemeinschaft Christi ist die prominenteste Gruppe mit aktiven Gemeinden, insbesondere in Deutschland und der Schweiz. In Österreich ist ihre Präsenz weniger ausgeprägt, aber es gibt kleine Gemeinschaften. Andere fundamentalistische Gemeinschaften haben zwar internationale Netzwerke, aber nur eine sehr geringe Mitgliederzahl in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In diesen Ländern gibt es vereinzelt Anhänger, doch organisierte Gemeinden sind selten.

Fazit

Im Laufe der Geschichte haben sich verschiedene Gruppen von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage abgespalten, oft aufgrund unterschiedlicher Ansichten über Führung und Lehre. Doch für viele Menschen stellt sich die Frage: Wie kann man erkennen, was Wahrheit ist, und welchen Weg man einschlagen sollte?

Die Suche nach Wahrheit ist eine persönliche Reise, die jeder für sich selbst entdecken muss. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage lehrt, dass jeder durch persönliches Gebet und das Studium der heiligen Schriften göttliche Führung erhalten kann. Wer wissen möchte, welche der vielen Glaubensrichtungen tatsächlich den Willen Gottes erfüllt, kann sich an die Verheißung im Buch Mormon halten:

“Wenn ihr dieses hier empfangt, so fragt Gott, den ewigen Vater, im Namen Christi, ob es wahr ist; und wenn ihr mit aufrichtigem Herzen, mit wirklichem Vorsatz fragt und Glauben an Christus habt, wird er euch durch die Macht des Heiligen Geistes kundtun, dass es wahr ist.” (Moroni 10:4)

Während im Laufe der Zeit viele Abspaltungen entstanden sind, hält die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage an ihren Überzeugungen fest und beruft sich auf Offenbarung und die ursprünglichen Lehren des Propheten Joseph Smith. Wer nach der Wahrheit sucht, ist eingeladen, selbst zu forschen und Gott um Antworten zu bitten.


Das könnte dich auch interessieren:

Religionsfreiheit – Uns geht es nicht (nur) ums Bekehren

Das Konzil von Nicäa und unser Glauben

Die Glaubensartikel