“Mormonen praktizieren Polygamie!”
Dieses Gerücht hält sich bemerkenswert hartnäckig – egal, wie häufig es dementiert wird.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Sache ein wahrer Kern zugrunde liegt.
Spannend (und verwirrend) dabei ist: Der Satz “Mormonen praktizieren Polygamie” ist wahr und falsch zugleich.
Wie kann das sein?
Gleichsetzung der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage mit den Mormonen
Wenn im Volksmund über “Mormonen” gesprochen wird, geht es eigentlich immer um die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und ihre Mitglieder.
Dabei gilt der Begriff „Mormonen“ in theologischen Kreisen als Oberbegriff für eine kleine Anzahl von Glaubensgemeinschaften, die neben der Bibel auch an das Buch Mormon glauben.
Die größte und bekannteste dieser Glaubensgemeinschaften ist die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage – aber sie ist nicht die einzige.
Einige Glaubensgemeinschaften, die zwar zu den Mormonen zählen, aber nicht zu der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, praktizieren die Vielehe in der Tat.
Die Aussage „Mormonen praktizieren Polygamie“ ist daher nicht prinzipiell falsch – wird aber oft falsch verwendet.
Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage praktizieren nämlich keine Polygamie.
Nicht zuletzt um solche Missverständnisse zu vermeiden, möchten Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage mit ihrem richtigen Namen angesprochen werden. Die Bezeichnung als “Mormonen” ist offiziell inkorrekt.
Deshalb werde ich im Folgenden die korrekten Bezeichnungen benutzen: „Heilige der Letzten Tage” und „Mitglieder der Kirche Jesu Christi”.
Alle Informationen zum Namen der Kirche und dessen Bedeutung findest du hier.
Ein Funken Wahrheit
Auch der Mythos von der Polygamie unter den Heiligen der Letzten Tage enthält – wie so viele – einen Funken Wahrheit.
Während eines Zeitraums von ungefähr 50 Jahren (von 1840 bis 1890) lebte eine bedeutende Anzahl von Mitgliedern der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage tatsächlich polygam.
Seit 1890 ist die einzig zulässige Form der Ehe innerhalb der Kirche jedoch die Monogamie: Die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau.
Mehrehen sind strikt untersagt.
Der Mythos wird sprachlich leicht zu einer historischen Tatsache, wenn aus „praktizieren“ „praktizierten“ wird. Richtig ist: „Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage praktizierten (für einen kurzen Zeitraum) die Polygamie“.
Die genauen Umstände dieses kurzen polygamen Abschnittes in der Geschichte der Kirche Jesu Christi wurden in mehreren ausführlichen Artikeln von Kirchenhistorikern aufgearbeitet. Ich werde sie an dieser Stelle daher nicht wiederholen. Hier sind einige davon aufgelistet:
- Mehrehe in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage
- Joseph Smith und die Mehrehe
- Die Mehrehe in Kirtland und in Nauvoo
- Die Mehrehe und die Familie im Utah des 19. Jahrhunderts
- Das Manifest und das Ende der Mehrehe
Viele Heilige der Letzten Tage empfinden diese Vergangenheit ihrer Kirche als unangenehm und problematisch.
Ich möchte im Folgenden versuchen zu erklären, wieso dieses Empfinden besteht – und wieso es eigentlich ungerechtfertigt ist. In Wahrheit ist die Polygamie nämlich weder ein Grund zur Scham, noch ist sie aus christlicher Sicht ein Problem.
Kulturelle Prägung
Die Geschichte des sogenannten Abendlandes, zu dem traditionell auch Deutschland zählt, ist eng mit der Geschichte des Christentums verbunden. Für Jahrhunderte bestimmte das Christentum (genauer gesagt: die katholische und später auch die evangelische Kirche) das Weltbild und die moralischen Grundfeste dieses Erdteils.
Was wir für gut oder böse, richtig oder falsch, akzeptabel oder inakzeptabel halten, basiert maßgeblich auf unserer kulturellen Prägung.
Da unsere Kultur von der römisch-katholischen und evangelischen Kirche geprägt ist, haben wir die Werte dieser beiden Konfessionen als Gesellschaft tief verinnerlicht – und beide Kirchen lehnen polygame Beziehungen ab.
Kein Wunder also, dass wir (ich eingeschlossen) die Mehrehe intuitiv für falsch halten.
Aber wann genau die Monogamie ihren Einzug ins Christentum hielt, ist nicht bekannt. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass die frühe katholische Kirche das römisch-hellenistische Verständnis einer monogamen ehelichen Beziehung übernahm.
In der Folge wurden polygame Beziehungen innerhalb der katholischen Kirche und ihren Herrschaftsgebieten verboten – alle großen christlichen Absplitterungen hielten seither an diesem Verbot fest.
Und bis heute ist die Vielehe in christlich geprägten Ländern rechtlich verboten. Aber abgesehen von dieser langen Tradition der Monogamie im Christentum, lässt sich die Polygamie nur schwer als unchristlich charakterisieren.
Nirgends wird sie in der Bibel – dem doktrinären Fundament des Christentums – als unmoralisch verworfen oder gar verboten. Im Gegenteil:
„Die Ehe als fundamentale gesellschaftliche Institution wird sogar in Bezug auf das Verhalten eines Ehemannes zu mehreren Ehefrauen […] im Alten Testament eingehend geregelt.“ (1)
Polygamie in der Bibel
Das Alte Testament ist voll von Geschichten über die Vielehe.
Große Propheten wie Abraham, Isaak und Jakob lebten polygam.
Wer die Polygamie als grundsätzlich falsch verdammt, bezeichnet damit gleichzeitig das Verhalten dieser Männer Gottes als unmoralisch.
Zwar sind Propheten der menschlichen Fehler- und Sündhaftigkeit genauso unterworfen wie wir, aber hätte Gott sie nicht zurechtgewiesen, wenn sie sich damit einer (schwerwiegenden) Sünde schuldig gemacht hätten?
Ich denke schon.
Wir können deswegen davon ausgehen, dass Gott ihre polygamen Beziehungen toleriert hat.
Kurz gesagt: Polygamie ist anscheinend nicht grundsätzlich falsch.
Polygamie ist frauenfeindlich … oder?
Abgesehen von unserer kulturellen Prägung gibt es noch moralische Bedenken gegen die Vielehe: Im Laufe der Geschichte ging die Polygamie in patriarchalischen Gesellschaften immer wieder eng mit der Unterdrückung, Ausbeutung und Misshandlung von Frauen einher.
Auch wenn die Vielehe – wie die Bibel zeigt – nicht grundsätzlich falsch sein kann, sind diese Begleiterscheinungen sehr wohl falsch, verwerflich und unentschuldbar.
Ist das nicht ein Grund dafür, die Polygamie insgesamt zu verwerfen?
Der Zusammenhang zwischen Polygamie und Unterdrückung ist kein notwendiger. Der polygam lebende Mann ist durch kein Naturgesetz dazu gezwungen, seine Frauen schändlich zu behandeln.
Die Frau wiederrum muss nicht zwangsläufig gegen die Vielehe sein. Es ist durchaus denkbar, dass eine glückliche Beziehung zwischen einem Mann und mehreren Frauen existieren kann – und genau so eine Beziehung ist unter den richtigen Umständen nicht grundsätzlich falsch.
Was sind die richtigen Umstände?
Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wissen durch das Buch Mormon, dass der göttliche Standard für menschliche Beziehungen die monogame Ehe zwischen einem Mann und einer Frau ist.
Der Prophet Jakob tadelte das Volk der Nephiten mit diesen eindrücklichen Worten:
„Dieses Volk fängt an, im Übeltun zuzunehmen; es versteht die Schriften nicht, denn wenn es Hurerei begeht, so versucht es, sich mit dem zu entschuldigen, was über David und seinen Sohn Salomo geschrieben worden ist.
Siehe, David und Salomo hatten wahrhaftig viele Frauen und Nebenfrauen, und das war ein Gräuel vor mir, spricht der Herr. […]
Darum werde ich, Gott, der Herr, nicht zulassen, dass dieses Volk es denen vor alters gleichtut.
Darum, meine Brüder, vernehmt mich und hört auf das Wort des Herrn: Denn es soll kein Mann unter euch mehr als nur eine Frau haben, und Nebenfrauen soll er keine haben; […]
Darum soll dieses Volk meine Gebote halten, spricht der Herr der Heerscharen, sonst sei das Land verflucht um seinetwillen.
Denn wenn ich, spricht der Herr der Heerscharen, mir Nachkommen erwecken will, so werde ich es meinem Volk gebieten; sonst aber soll es auf dies alles hören.“
Jakob 2: 23-30, Hervorhebungen vom Autor
Aus diesen Versen im Buch Mormon geht klar hervor: Unrechtmäßig praktizierte Polygamie ist für Gott nichts anderes als Hurerei.
Diese Passage zeigt aber auch, dass auf sein Geheiß eine Ausnahme von diesem Normalzustand (der Monogamie) gemacht werden kann – zum Beispiel dann, wenn der Herr möchte, dass mehr Kinder in Familien aufwachsen, in denen sein Evangelium gelehrt wird.
Nur dann, wenn Gott polygame Beziehungen explizit gebietet, sind diese auch erlaubt. Liegt ein solches Gebot nicht vor, gilt: „Denn es soll kein Mann unter euch mehr als nur eine Frau haben“.
Mit diesem Wissen lässt sich auch die Bibel besser verstehen.
Wir können davon ausgehen, dass Abraham, Isaak und Jakob darin gerechtfertigt waren, mehrere Frauen zu haben, weil der Herr es ihnen geboten hat.
David und Salomo hingegen bekamen diesen Auftrag nicht und versündigten sich durch ihr polygames Leben.
Vor diesem Hintergrund erstrahlt auch die Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in neuem Licht:
In den 1830er Jahren erging das Gebot des Herrn an Joseph Smith, die Vielehe langsam unter den Mitgliedern der Kirche einzuführen. Den Menschen war die Polygamie damals noch befremdlicher als uns heute.
Es war ein harter Test des Glaubens für die Mitglieder, diesem Gebot des Herrn zu gehorchen, denn es ging für viele mit Verfolgung und sozialer Ächtung einher.
Das (vorläufige) Ende der Vielehe
Die göttliche ‚Ausnahmegenehmigung‘ zur Polygamie erlosch im Jahre 1890.
Seither gilt wieder der eheliche Standard: die Monogamie. Vielehen sind in der Kirche Jesu Christi seitdem strikt verboten.
Was lernen wir daraus?
Die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Vielehe lässt sich nicht pauschal beantworten.
Polygamie ist weder (immer) falsch, noch ist sie (immer) richtig.
Es hängt immer vom Willen Gottes zu einem gegebenen Zeitpunkt ab, welche Beziehungen zwischen Mann und Frau erlaubt sind.
Derzeit sieht der Wille Gottes keine polygamen Beziehungen vor – die Vielehe ist heute also falsch und verboten. Aber der Herr hat jederzeit das Recht und die Kraft, dieses Gebot zu ändern.
Die Moral von der Geschicht’
So befremdlich die Polygamie heute auch erscheint – so wenig ist sie doch ein Grund zur Scham oder ein Beweis für die Falschheit der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.
Unser Befremden ist vorrangig kultureller Natur. Wir können unsere Abneigung nicht mit guten Gründen erklären.
Die Polygamie ist auch nicht unchristlich, denn sie erscheint in der Bibel als legitim.
Aus dem Buch Mormon lernen wir, dass die Monogamie der eheliche Standard für die Menschen ist. Gott kann jedoch Ausnahmen von der Regel machen, wenn er das für richtig hält.
Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage glauben also sehr wohl an die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau, aber sie gestehen Gott auch das Recht zu, polygame Beziehungen zu erlauben, um seine weisen Absichten zu erfüllen.
Anmerkungen
(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Polygamie#Polygamie_im_Christentum (2.1 Polygamie und die Bibel); siehe z. B.: Deutoronomium 25:5-10
Informiere dich weiter:
Über den Autor:
Urs Wrenger machte seinen Abschluss in Philosophie und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum. Er versucht, die Philosophie als konstruktive Disziplin in der Gesellschaft zu reetablieren und auch für religiöse Themen produktiv zu machen. Wenn Urs nicht gerade liest, geht er wandern, fährt Fahrrad oder genießt Rock ‘n’ Roll aus den 60er- bis 90er-Jahren.
Dieser Artikel über Polygamie wurde von Urs Wrenger verfasst und am 12.04.2022 auf treuimglauben.de veröffentlicht.
Wenn Sie mehr über die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) wissen möchten, dann besuchen Sie einfach eine der offiziellen Webseiten der Kirche: kommzuchristus.org und kirche-jesu-christi.org.
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