Seit knapp sieben Monaten leben wir mit einem Virus in unserem Land, das die ganze Welt in Aufruhr und Schrecken versetzt hat. Doch der erste Schrecken vor dem Unbekannten ist erloschen und der Aufruhr hat sich gelegt. Schon längst haben wir uns an die maskierten Gesichter in den Geschäften, Bussen und Bahnen gewöhnt. Ein Händedruck zur Begrüßung wirkt befremdlich und den Abstand zu anderen Personen halten wir intuitiv ein, als untersagte uns eine unsichtbare Absperrung jede Annäherung. Kurz gesagt: Der Ausnahmezustand wurde zur Normalität. Da uns Ungewissheit, Furcht und Phantasie nicht länger die Sinne vernebeln und die Sicht trüben, ist es Zeit, die Ereignisse der letzten Monate zu reflektieren und daraus zu lernen. Eine der prominentesten und bedeutendsten Erkenntnisse, die Soziologen und Philosophen aus der Pandemie gewinnen konnten, ist die bereitwillige Zustimmung, mit der eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung eine Vielzahl der beschlossenen restriktiven Maßnahmen befürwortet hat – und weiterhin befürwortet.
Verbote sind gut
Die Mehrzahl der Menschen nimmt eine vermeintliche Einschränkung ihrer eigenen Freiheit in Kauf, um genau diese Freiheit für sich und andere langfristig zu gewährleisten. Dabei wurden Verbote in der heutigen Politik und Gesellschaft weitestgehend tabuisiert. Niemand möchte anecken. Niemand möchte die Sympathien der Wähler oder der Mitbürger verlieren. Doch was niemand für möglich hielt, tritt jetzt zu Tage: Verbote sind mehrheitsfähig. Zumindest dann, wenn sie eine unmittelbare (1) Bedrohung der eigenen Existenz oder der unserer Liebsten abzuwenden helfen – und wenn diese Bedrohung auch als solche erkannt wurde. Es ist die Aufgabe des Staates, Ge- und Verbote zu erlassen, die das Wohlbefinden der Allgemeinheit fördern und das menschliche Konkurrenzstreben durch das Schaffen einer allgemein verbindlichen Grundlage außer Kraft setzen.
Die Wahrheit dieser soziologischen Feststellung lässt sich politisch anhand von globalen Phänomenen wie denen des Klimawandels und der Verseuchung der Meere mit Plastik beweisen. Diese Prozesse bedrohen unsere menschliche Existenz in viel höherem und längerfristigem Maße, als es der Coronavirus jemals könnte. Doch anders als bei COVID-19 ist die Bedrohung in diesen Fällen nicht unmittelbar und sie scheint unsere eigene Existenz hier in Deutschland in näherer Zukunft nicht zu gefährden. Beim Virus besteht eine deutliche und klar ersichtliche Relation zwischen einer Handlung – etwa dem Nichttragen einer Maske, dem Besuch überfüllter Orte oder dem Kontakt mit infizierten Gegenständen – und ihrer Konsequenz – der Ansteckung mit den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken. Die Folgen unseres Handelns zeigen sich hier spätestens innerhalb von 14 Tagen.
Der Mensch ist kurzsichtig
Beim Klimawandel und der Plastikverschmutzung verhält es sich jedoch grundlegend anders: Fliege ich von Deutschland nach Amerika oder von Düsseldorf nach München, wird es im Flugzeug nicht heißer und im heimischen Garten das Wasser nicht knapper. Das ausgestoßene CO2 wird uns nicht unmittelbar zum Verhängnis. Die Folgen unserer Entscheidungen folgen nicht sofort, nicht nach Tagen, auch nicht nach Wochen, sondern erst nach Jahren. Und selbst dann trifft es zunächst nicht uns, sondern Menschen in Afrika und auf den Inselstaaten, zu denen wir keinerlei Beziehung haben und deren Schicksal uns höchstens in vereinzelten Schlagzeilen der Medien tangiert.
Dasselbe gilt für das Plastikgeschirr, das nach einmaligem Benutzen weggeworfen wird, um sich den Abwasch zu sparen. Auch dieses bereitet uns nicht unmittelbar Probleme, sondern kehrt erst auf Umwegen und nach einer langen Zeit durch die Nahrungskette auf unseren Speiseteller zurück. Zu weit liegen die Konsequenzen dieser Handlungen in der Zukunft, als dass sie unsere gegenwärtigen Bedürfnisse und Entscheidungen zu leiten vermögen. Und so kommt es, dass wir uns nicht von unseren schadhaften Vorlieben trennen und im Namen der individuellen Freiheit genau diese zerstören – und die Freiheit anderer und die unserer Nachkommen gleich mit. Politische Kurzsichtigkeit und die Angst, die Wähler zu verdrießen, sind auch der Grund, warum Verbote in diesem Bereich weiter ein politisches Tabu bleiben.
Nehmen wir Gottes Gebote ernst?
Dieses Prinzip der Kurzsichtigkeit des Menschen lässt sich jedoch nicht allein auf politische oder gesellschaftliche Entscheidungsprozesse anwenden, sondern auch auf geistige. Wie es die Aufgabe des Staates ist, seine Bürger durch Gesetze zu schützen, ist es auch die selbsternannte Aufgabe Gottes, seine Kinder durch Gebote vor seelischen Übeln zu bewahren. Doch anders als bei den menschlichen Vertretern des Staates leidet Gott nicht unter Kurzsichtigkeit. Seine Gebote behalten immer das große Ganze im Blick und befördern unser Wohl bis in alle Ewigkeit. Es geht ihm weder um Umfrage- und Beliebtheitswerte noch um das Gewinnen der nächsten Wahl. Es geht ihm einzig und allein um unser Wohl.
Stellen wir uns nun mit diesem Wissen die folgenden Fragen: Befürworten wir auch Gottes Gebote in Wort und Tat? Fühlen wir uns von seelischen Gefahren ebenso unmittelbar bedroht wie von körperlichen? Fürchten wir den geistigen Tod so sehr wie den physischen? Oder lassen wir uns davon täuschen, dass die verheerenden Konsequenzen unserer Übertretungen erst in ferner Zukunft eintreten? Gottes Gebote scheinen unsere Freiheit auf den ersten Blick zu begrenzen, doch in Wahrheit helfen sie, diese zu erhalten. Seine Gebote dienen dazu, seelische Bedrohungen von uns abzuwenden. Folgen wir ihnen mit derselben Bereitwilligkeit und Genauigkeit wie den Corona-Maßnahmen? Wissen wir um ihren Sinn und Zweck? Haben wir ein Zeugnis vom Gehorsam gegenüber Gottes Geboten? Die Folgen von Sünde sind bei weitem schwerwiegender und langfristiger als die eines Virus. Doch sie treten meist erst nach unserem Leben ein – reicht diese düstere Zukunftsmusik aus, um unsere gegenwärtigen Entscheidungen zu beeinflussen?
„[W]enn ihr dies alles glaubt, so seht zu, dass ihr es tut“ (Mosia 4:10).
Seien wir nicht kurzsichtig! Lassen Sie uns Gottes Gebote mindestens mit demselben Eifer halten wie die Hygieneregeln der Corona-Pandemie. Unser ewiges Leben hängt davon ab.
Anmerkungen
(1) Eine Bedrohung nenne ich in diesem Kontext dann unmittelbar, wenn ihre gefährlichen Konsequenzen nicht lange auf sich warten lassen und wenn eine deutliche Relation zwischen einer Handlung und diesen Konsequenzen klar ersichtlich ist (= zeitliche und kausale Unmittelbarkeit).
Über den Autor:
Urs Wrenger machte seinen Abschluss in Philosophie und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum. Er versucht die Philosophie als konstruktive Disziplin in der Gesellschaft zu reetablieren und auch für religiöse Themen produktiv zu machen. Wenn Urs nicht gerade liest, geht er wandern, befindet sich im Fitnessstudio oder genießt Rock ‘n’ Roll aus den 60er- bis 90er-Jahren.
Dieser Artikel wurde von Urs Wrenger verfasst und am 19.08.2020 auf treuimglauben.de veröffentlicht.
Wenn Sie mehr über die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wissen möchten, dann besuchen Sie einfach eine der offiziellen Webseiten der Kirche: kommzuchristus.org und kirche-jesu-christi.org