Stellen Sie sich folgende Situation vor:

Die Bremsen eines Zuges versagen. Der Lokführer verliert die Kontrolle und der Zug rast ungebremst auf fünf Bauarbeiter zu, die gerade das Gleis reparieren, auf dem der Zug fährt. Aufgrund des Lärms der schweren Baumaschinen hören sie den Zug nicht kommen. Sie stehen zufällig am Schienenstellwerk und könnten den Zug auf ein anderes Gleis umlenken. Doch auf diesem Gleis arbeitet ein Bauarbeiter, der den Zug ebenfalls weder kommen sieht, noch hört. Sie sind die einzige Person, die eingreifen und das tragische Ende der Situation beeinflussen kann. Tun Sie nichts, sterben fünf Menschen. Stellen Sie die Weichen um, stirbt ein Mensch. Was würden Sie tun? Was denken Sie, sollte getan werden?

Verändern wir das Szenario:

Sie möchten 35.000 € spenden. Sie haben die Wahl, dieses Geld entweder in das Training eines Blindenhundes und dessen Besitzer zu investieren oder dasselbe Geld Menschen in Entwicklungsländern zugutekommen zu lassen, um diese von ihrem Trachom – einer bakteriellen Entzündung des Auges, die zur Erblindung führen kann – zu heilen. Das Geld reicht für das Training von einem Blindenhund und seinem Besitzer aus. Oder es kann dazu genutzt werden, 400 bis 2000 Menschen von ihrer Blindheit zu erlösen oder vor dieser zu bewahren. Wohin würden Sie das Geld spenden? Wem sollte das Geld zugutekommen?

Rationales Kalkül vs. Absolute Werte

Wenn Sie der Auffassung sind, es wäre in diesen Beispielen richtig, die Minderheit zugunsten der Mehrheit zu opfern, folgen Sie in der moralischen Beurteilung einer Handlung einem sehr rationalen Kalkül. Sie wägen ab. Fünf Leben sind mehr wert als eins. Das Leiden von 400 bis 2000 Menschen wiegt schwerer als das Leiden eines Einzelnen. Vielleicht würden Sie sogar der Aussage zustimmen, „Der Zweck heiligt die Mittel“. Diese Position wird in der Moralphilosophie mit dem sperrigen Begriff des Utilitarismus bezeichnet.

Hier ist eine Waage zu sehen, die nach rechts geneigt ist. Auf beiden Seiten befindet sich ein Fragezeichen.

Tendieren Sie hingegen dazu, den einen Gleisarbeiter nicht zu opfern und auch bei der Spende keine der beiden Optionen als die eindeutig richtige zu identifizieren, so erkennen Sie höhere Werte als die Rationalität als Bestimmungsgrund ihres Handelns an. Sie haben die Werte der Aufklärung, die dem Menschen eine Würde und seinem Leben einen absoluten Wert zusprechen, mehr oder weniger bewusst in Ihr Denken und Handeln übernommen. Sie folgen Werten und Regeln – keinem Kalkül. Menschen können bei Ihnen kein Mittel zum Zweck sein. Diese Position wird in der Moralphilosophie mit dem nicht weniger unverständlichen Begriff der deontologischen Ethik oder – zumindest ein wenig einfacher – als Pflichtethik bezeichnet.

Als Christ ist es schwer, ein konsequenter Utilitarist zu sein, da man zumindest die von Gott aufgestellten Regeln und Werte – seine Gebote – als absolut anerkennen muss und diese in ihrem Geltungsbereich die Grundlage unseres Handelns bilden sollten – nicht die Rationalität (1). Das Gebot „Du sollst nicht töten“ lässt sich nicht ohne Weiteres durch äußere Umstände außer Kraft setzen. Und spätestens wenn der einzelne Bauarbeiter der eigene Vater und die blinde Person, deren Blindenhund ausgebildet werden soll, die eigene Mutter ist, wird in der Regel auch der Letzte zum feurigen Verfechter der Menschenwürde und spricht dem menschlichen Leben einen absoluten Wert zu. Es scheint, als ob die christliche Art des Entscheidens diejenige ist, die sich nicht anmaßt, das Leben von Gottes Kindern abzuwägen.

Wie würde Gott sich entscheiden?

Der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle vielleicht einwenden, dass Gott selbst Menschenleben gegeneinander abwägt und häufig genug seinen eigenen Geboten direkt oder indirekt zuwiderhandelt. So etwas wie absolute Werte könne es demnach nicht geben. Man denke nur an Laban, der auf Gottes Geheiß von Nephi getötet wurde (1 Nephi 4) oder an die vielen Völker, die im Namen Jehovas von den Israeliten auf ihren Wanderschaften durch die Wüste ausgelöscht wurden (vgl. Numeri 31). Trotz der vielen Begründungen, die allzu häufig angeführt werden, um den Tod Labans zu rechtfertigen – und deren Plausibilität ich ihnen nicht absprechen möchte –, ist der vom Heiligen Geist explizit genannte Grund doch ein utilitaristischer:

„Siehe, der Herr tötet die Schlechten, um seine rechtschaffenen Absichten zu verwirklichen. Es ist besser, dass ein Mensch zugrunde geht, als dass ein Volk in Unglauben verfällt und zugrunde geht.“ (1 Nephi 4:13)

Hier ist die Szene, in der der Prophet Nephi über en betrunkenen Laban gebeugt ist. Nephi entscheidet in dieser Szene über Leben und Tod.

Ein Leben ist weniger wert als das eines ganzen Volkes. Das widerspricht zum einen unserer natürlichen Intuition: In der Ökonomie hängt der Wert einer Ware von der Nachfrage und seiner Knappheit ab. Aus irdischer Perspektive gibt es eine sehr hohe Nachfrage nach dem Leben – die allermeisten Menschen möchten so lange wie möglich leben. Gleichzeitig ist das Leben ein knappes Gut, wenn man davon ausgeht, dass man nur einmal lebt und dass es nach dem Tod vorbei ist. Es verwundert daher nicht, dass wir sterblichen Menschen intuitiv dazu geneigt sind, zumindest unserem eigenen Leben einen unendlichen Wert zuzusprechen. Folgen wir diesem Gedanken konsequent, müssen wir jedem menschlichen Leben einen absoluten Wert zugestehen. Zum anderen widerspricht diese Abwägung von Leben aber auch unseren abendländischen Werten und Maßstäben. Aber nur dann, wenn ihr Geltungsbereich vom Menschen auf Gott ausgeweitet wird. Für die menschliche Sphäre lässt sich die Gültigkeit dieser Werte gut begründen – jedoch nicht für die Gottes.

Rechtschaffenheit als absoluter Wert

Aus Gottes ewiger Perspektive hat nicht das irdische Leben einen unendlichen Wert, sondern die Rechtschaffenheit seiner Kinder. Es ist sein Werk und seine Herrlichkeit,

„die Unsterblichkeit und das ewige Leben des Menschen zustande zu bringen“ (Mose 1:39).

Durch die Auferstehung Christi ist uns allen die Unsterblichkeit garantiert, doch zuvor müssen wir diesen verweslichen Leib ablegen – wir müssen sterben. Würde Gott unser irdisches Leben um jeden Preis beschützen, würde er seinen eigenen Plan vereiteln.

Um das ewige Leben seiner Kinder zustande zu bringen, muss Gott hingegen gewährleisten, dass wir die Möglichkeit auf ein rechtschaffenes Leben haben. Unter diesem Gesichtspunkt fällt die Interpretation der oben genannten Beispiele deutlich leichter. Um möglichst vielen seiner Kinder ein rechtschaffenes Leben zu ermöglichen, musste Gott dafür sorgen, dass Lehi und seine Familie in den Besitz der Messingplatten kommen – und auch bleiben. Da Laban die Auswanderer wohl verfolgt hätte, war es in dieser Situation notwendig, ihn zu töten. Dadurch war es Generationen von Nephiten möglich, in Rechtschaffenheit zu leben und dadurch können wir unseren Glauben an Christus heute auf einen weiteren Zeugen, das Buch Mormon, bauen.

Zu sehen sind hier die Goldenen Platten (NICHT das Original), von denen der Prophet Joseph Smith übersetzte und uns dadurch das Buch Mormon, einen weiteren Zeugen für Jesus Christus, geschenkt wurde. Auch darin finden wir viele Entscheidungen über Leben und Tod.

Gleiches gilt auch für die Israeliten, die durch eine Vermischung mit den heidnischen Völkern ihren eigenen Abfall vom Glauben riskiert hätten. Wir müssen dabei darauf vertrauen, dass die Opfer dieser göttlichen Anweisungen keine Nachteile in Bezug auf ihr ewiges Heil erleiden und ihnen keine Möglichkeit auf Umkehr genommen wird. Es darf um sie aus ewiger Perspektive nicht schlechter stehen, damit es um andere besser steht. Ein solches Vorgehen wäre ungerecht und unbarmherzig – doch Gott ist das Gegenteil von beidem. (2)

Wir sollen wie Gott sein

Dieser Satz führt hier bewusst in die Irre. Denn er verleitet zu dieser Schlussfolgerung:

„Weil Gott das irdische Leben nicht als absoluten Wert betrachtet und wir so sein sollen wie Gott, sollen auch wir das irdische Leben nicht als absoluten Wert betrachten. Wir sollen Leben gegen Rechtschaffenheit abwägen.“

Doch die Frage ist nicht, ob wir es sollen, sondern vielmehr, ob wir es können. Eines der Hauptprobleme des utilitaristischen Kalküls ist seine schier unendliche Komplexität. Woher sollen wir wissen, inwiefern die Zukunft die Rechtschaffenheit einer Person beeinflusst? Woher sollen wir wissen, welche ewigen Folgen unser Handeln mit sich bringt? Nur ein göttlicher Verstand vermag all diese Variablen so mit Inhalt zu füllen, dass am Ende der Gleichung ein präzises und gerechtes Ergebnis steht.

Uns irdischen Menschen fehlt diese Weitsicht. Es fehlt uns schlichtweg an den nötigen Informationen. Aus diesem Grund wurden uns göttliche Gebote an die Hand gegeben, die uns vor Fehlentscheidungen schützen sollen. Aus diesem Grund behält das Leben eines Menschen in unseren Abwägungen weiterhin einen absoluten Wert und seine Würde und Souveränität bleibt für uns weiterhin unantastbar (3). Aus diesem Grund sollten wir nicht Gott spielen, indem wir über Leben und Tod, Glück und Leid entscheiden. Und aus diesem Grund können wir auch kein moralisches Gebot formulieren, wem unsere Hilfe zuteilwerden sollte und wem nicht – wahrhaft geboten ist nur eines: zu helfen. Wenn Gott schweigt, bleibt es uns überlassen, wie diese Hilfe innerhalb des von den Geboten gesteckten Rahmen auszusehen hat und wer sie empfangen soll. Normiert und verbindlich werden die genauen Einzelheiten nur infolge einer göttlichen Direktive. Nur er kennt alle notwendigen Informationen; und nur er kann uns zum wahrhaft Guten lenken – und das wird er auch, denn

„die Seelen haben großen Wert in den Augen Gottes“ (LuB 18:10).

Zu sehen ist eine Bettlerin, die auf der Straße sitzt.

Fußnoten:

(1)   Das heißt nicht, dass es irrational ist, Gottes Gebote zu halten. Es heißt lediglich, dass die Rationalität der Gebote keine notwendige Bedingung für ihre Befolgung ist. Gebote werden befolgt, nicht weil sie rational sind, sondern weil es Gebote sind.

(2)   Natürlich sind auch andere Mittel und Wege denkbar, die die Rechtschaffenheit der Nephiten und der Israeliten ermöglicht hätten. So hätte der Inhalt der Messingplatten Lehi beispielsweise offenbart und dann verschriftlicht werden können. Weshalb Gott sich ausgerechnet für den Tod Labans und der Midianiten entschieden hat, ist für uns Menschen nicht vollkommen nachvollziehbar.

(3)   Das soll nicht heißen, dass Gott unsere Würde und Souveränität verletzt. Wir müssen darauf vertrauen, dass diese Eigenschaften durch seine Entscheidungen vielmehr gewahrt und gefördert werden.


Über den Autor:

Urs Wrenger machte seinen Abschluss in Philosophie und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum. Er versucht die Philosophie als konstruktive Disziplin in der Gesellschaft zu reetablieren und auch für religiöse Themen produktiv zu machen. Wenn Urs nicht gerade liest, geht er wandern, befindet sich im Fitnessstudio oder genießt Rock ‘n’ Roll aus den 60er- bis 90er-Jahren.

Dieser Artikel wurde von Urs Wrenger verfasst und am 01.07.2020 auf treuimglauben.de veröffentlicht.

Wenn Sie mehr über die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wissen möchten, dann besuchen Sie einfach eine der offiziellen Webseiten der Kirche: kommzuchristus.org und kirche-jesu-christi.org

Ist es rational, an Gott zu glauben?

Wie wir die Wörter „schwarz” und „Fluch” in den heiligen Schriften missverstehen

Einen gesunden Umgang mit Sexualität entwickeln